Wenn Pikler nicht passt – Unser ehrlicher Erfahrungsbericht
- Sabine
- 24. März
- 4 Min. Lesezeit
Ist ein Pikler-Kurs wirklich für jedes Kind geeignet?
Die Pikler-Pädagogik ist in vielen Elternkreisen ein echtes Zauberwort: Freies Spiel, selbstständige Bewegungsentwicklung, achtsame Begleitung – all das klingt nach einem wunderbaren Konzept. Doch funktioniert es wirklich für jedes Kind? Unser Erfahrungsbericht zeigt, dass es auch anders sein kann. Mein Sohn (18 Monate) und ich haben uns in unserem Pikler-Kurs nicht wohlgefühlt. Hier erfahrt ihr, warum das so war, welche kritischen Punkte es gibt und wie ihr herausfinden könnt, ob ein Pikler-Kurs das Richtige für eure Familie ist.

Was ist ein Pikler-Kurs?
Die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler (1902 – 1984) entwickelte eine Pädagogik, die auf freie Bewegung, achtsame Begleitung und selbstbestimmtes Spiel setzt (Pikler, 1971). Statt angeleitetem Spielen stehen natürliche Bewegungsabläufe und eigenständiges Erkunden im Vordergrund.
Das Konzept klingt wunderbar – aber was, wenn es nicht funktioniert?
Unsere Pikler-Erfahrung: Warum es nicht gepasst hat
Wir betraten den Raum, in dem wir bereits öfter waren. Die Spielsachen: Tücher, Bälle, Rampen und das bekannte Pikler-Dreieck. Mein Sohn zeigte jedoch wenig Interesse an diesen Materialien. Er wollte lieber auf meinem Schoß sitzen oder mit mir Hand in Hand den Raum erkunden. Erst als er ein Puzzle entdeckte, war er mit Freude dabei – solange, bis ein anderes Kind ihm ein Puzzleteil wegnahm.
Daraufhin kam die Gruppenleiterin zu uns, erklärte ihm, dass das andere Kind Bescheid wisse und den Stein später zurückgeben würde. Mein Sohn fing bitterlich an zu weinen. Anstatt ihn in seinem Gefühl abzuholen oder eine Lösung anzubieten, wurde nur mit den Schultern gezuckt. Die Situation eskalierte so weit, dass er nur noch weg wollte.
Die 4 größten Probleme in unserem Pikler-Kurs
1. Eltern als passive Beobachter
Obwohl es nicht ausdrücklich gesagt wurde, war es unausgesprochen klar: Die Eltern saßen in einer Reihe entlang der Wand, ohne mit ihren Kindern zu interagieren. Niemand sprach, und die Kinder in der Mitte wirkten fast wie in einer Manege vor einem stillen Publikum. Mein Sohn fühlte sich ohne meine aktive Begleitung unsicher.
2. Fehlende emotionale Begleitung für Kinder
Pikler setzt auf die Selbstständigkeit des Kindes. Doch was passiert, wenn ein Kind überfordert ist? Die Pädagogik setzte voraus, dass mein Sohn sich „von selbst“ beruhigt – ein Anspruch, der für viele Kleinkinder schlicht nicht realistisch ist (Schore, 2001).
3. Konfliktlösung ohne echte Unterstützung
Als meinem Sohn ein Puzzleteil weggenommen wurde, hieß es nur: „Das andere Kind weiß Bescheid.“ Aber für ihn war das keine Lösung. Er verstand nicht, warum sein Bedürfnis nicht ernst genommen wurde – und fühlte sich hilflos.
4. Unterschwellige Kritik an Eltern
Es wurde subtil vermittelt, dass Eltern ihre Kinder „mehr loslassen“ sollten. Doch jedes Kind ist individuell. Manche brauchen in neuen Situationen mehr Nähe – das ist kein Zeichen von Überbehütung, sondern ein natürlicher Teil der Bindungsentwicklung (Ainsworth, 1979).
Checkliste: Ist ein Pikler-Kurs das Richtige für mein Kind?
Nicht jedes Kind fühlt sich in einem Pikler-Kurs wohl. Diese Checkliste hilft euch, eine Entscheidung zu treffen:
✅ Mag mein Kind selbstständiges Erkunden?
✅ Fühle ich mich wohl damit, einfach nur zu beobachten?
✅ Passt die Gruppendynamik zu unserem Temperament?
✅ Ist die Kursleitung offen für individuelle Bedürfnisse?
❌ Fühlt sich mein Kind ohne aktive Begleitung und Nähe unsicher?
❌ Ist mir eine kommunikative und lebendige Atmosphäre wichtiger als eine stille Beobachtung?
Wissenschaftlicher Blick: Warum emotionale Begleitung so wichtig ist
Laut der Bindungstheorie (Ainsworth, 1979) brauchen Kinder in neuen oder stressigen Situationen eine sichere Basis – oft in Form der Eltern. Studien zeigen, dass die Fähigkeit zur emotionalen Selbstregulation nicht nur von inneren Faktoren abhängt, sondern stark von der Reaktion der Bezugspersonen beeinflusst wird (Schore, 2001). Eine zu früh geforderte Selbstregulation kann Frustration auslösen und das Vertrauen in die Umgebung beeinträchtigen.

Was tun, wenn ein Pikler-Kurs nicht passt?
Falls ihr merkt, dass euer Kind (oder ihr selbst) euch in einem Pikler-Kurs nicht wohlfühlt, gibt es Alternativen:
✔ Den Austausch mit der Kursleitung suchen: Manche Gruppen setzen Pikler flexibler um.
✔ Eine andere Gruppe ausprobieren: Die Umsetzung kann stark variieren.
✔ Alternativen testen: Montessori-Spielgruppen, Waldspielgruppen oder offene Eltern-Kind-Treffs bieten oft freieres Spiel in einem anderen Rahmen.
✔ Einfach loslassen: Nicht jede Methode passt zu jeder Familie – und das ist völlig in Ordnung!
Fazit: Ist Pikler wirklich für jedes Kind geeignet?
Pikler kann großartig sein – aber nicht für alle Kinder und Eltern. Unser Erlebnis hat uns gezeigt, dass unser Weg ein anderer ist. Mein Sohn braucht Nähe und eine feinfühlige Begleitung in Konflikten. Und ich möchte mich in einer Eltern-Kind-Gruppe willkommen fühlen.
Wenn ihr also einen Pikler-Kurs besucht und merkt, dass es sich nicht gut anfühlt: Das liegt nicht an euch oder eurem Kind. Ihr dürft auf euer Bauchgefühl hören und den Weg wählen, der euch guttut! 💛

Quellen & Literatur
Ainsworth, M. D. S. (1979). Infant-mother attachment. American Psychologist, 34(10), 932-937.
Gallahue, D. L., & Ozmun, J. C. (2012). Understanding Motor Development: Infants, Children, Adolescents, Adults. McGraw-Hill.
Pikler, E. (1971). Lasst mir Zeit: Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. Pflaum Verlag.
Schore, A. N. (2001). The effects of early relational trauma on right brain development, affect regulation, and infant mental health. Infant Mental Health Journal, 22(1-2), 201-269.
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